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"Mein Schloss", a dance-theater piece about autism  -  Press critics

- Nachtkritik von Klaus Dilger

- Abgeschlossen im Selbst von Dorothea Marcus

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 NACHTKRITIK ZU „MEIN SCHLOSS“, DIE ENTDECKUNG DER MENSCHLICHEN UND SEELISCHEN ARCHITEKTUR

URAUFFÜHRUNG VON „MEIN SCHLOSS“ IM HAUS DER JUGEND

HIER GEHT ES ZUM VIDEO TRAILER DER AUFFÜHRUNG

Nach(t)besprechung von Klaus Dilger

MEIN SCHLOSS nennen die Tänzer und Musiker um Jean Laurent Sasportes ihr Tanztheaterstück zum Thema Autismus, das soeben im Theatersaal des Barmer Haus der Jugend seine zu Recht begeistert aufgenommene und erlebte Uraufführung feiern durfte. 

Die Idee hierzu hatten, anlässlich des vierzigsten Geburtstages des Vereins Autismus Wuppertal | Düsseldorf-Bergisches Land e.V., Stephanie Roos-Zech, die sich seit vielen Jahren einen Namen gemacht hat, als unermüdliche „Katalysatorin“, Ermöglicherin und Koordinationsexpertin an der Schnittstelle von Kunst und gesellschaftlicher Relevanz, insbesondere auch im Zusammenhang mit aussergewöhnlichen Menschen, die sich nicht nach Schema „F“ einordnen und behandeln lassen, sowie  der Choreograph und Pina Bausch Tänzer,  der seit 1979 die Werke der grosssen Choreographin als Tänzer prägte und weltweit bei den Gastspielen des Wuppertaler Tanztheaters auf den Bühnen verkörperte. Sasportes war Wissenschaftler (studierter Mathematiker und Physiker), ehe er mit dreiundzwanzig Jahren beschloss Tänzer zu werden. Seit 1996 begann er nur noch als Gast für Pina Bausch zu tanzen und seine Karriere als Choreograph, Regisseur und Lehrer  zu intensivieren.

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Für dieses Unterfangen, „Mein Schloss“, konnte er beinahe eineinhalb Jahre Ideen, Eindrücke und Erfahrungen sammeln, indem er Autisten Tanz unterrichtete. Und es gelang ihm, für dieses Ereignis ein hervorragendes Ensemble aus vier Tänzer*innen und vier Musiker*innen zusammen zu stellen.

Das Ergebnis ist ebenso eindrucksvoll wie berührend, wenn hiermit die Schärfung unserer Wahrnehmung und unseres Verständnisses jenseits der Normen gemeint ist.

Feinfühlig und ohne Pathos erlauben uns die Protagonisten die Begegnung mit Menschen, die in ihrer eigenen Welt zu leben scheinen, die jedoch unzweifelhaft in der Unseren, der „Normalowelt“, stattfindet und uns allein schon deshalb etwas angeht. Teilweise humorvoll, ohne sich jemals lächerlich über etwas zu machen, wird uns vor Augen geführt, wie wenig wir doch über menschliche und seelische Architektur zu wissen scheinen, indem wir auf Mauern, aber auch Fenster und Türen treffen, wo wir im „täglichen Leben“ nur offene Plätze erwarten. Diese zu überwinden und zu öffnen bedarf es der adäquaten Schlüssel zu den individuell verschiedenen Schlössern, die die Türen und Fenster sichern. Patentrezepte scheint es hierbei nicht zu geben. Das kostet Zeit und Phantasie. Qualitäten und Güter die rar geworden sind, weil es hierzu Menschlichkeit und Klugheit bedarf.

Vielleicht hilft bei der Wiederentdeckung die (erneute) Lektüre von St.Excupéry’s „Der Kleine Prinz“ oder seit Heute, der Besuch von „Mein Schloss“!

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Viel Applaus für die Akteure auf und hinter den Bühnen und den Förderern, die dieses Projekt möglich gemacht haben:

Mein Schloss Tanztheaterstück zum Thema Autismus

Künstlerische Leitung: Jean Laurent Sasportes  | Musikalische Leitung: Testsu Saitoh  |Mitwirkende:  Chrystel Guillebeaud, Kenji Takagi, Chikako Kaido, Eri Fukahori, Ute Völker, Wolfgang Suchner, Naoki Kita, Tetsu Saitoh  | Regieassistenz: Gesa Linnéa Hocke | Projektidee/Organisation Autismus Wuppertal/Düsseldorf-Bergisches Land e.V., Jean Laurent Sasportes, Stephanie Roos-Zech

Mit Unterstützung von Glücksspirale/WestLotto, Johannes-Rau-Stiftung, WSW Wuppertaler Stadtwerke, Stadtsparkasse Wuppertal, Kulturbüro der Stadt Wuppertal, Jackstädt-Stiftung, Cronenberger Werkzeugkiste, Stiftung Kalkwerke Oetelshofen, Deutsche Bank, Rotary Wuppertal 

ANA, Japan Foundation, Barmenia und dem Haus der Jugend Wuppertal-Barmen

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Abgeschlossen im Selbst-Zelt,   von Dorothea Marcus

Das Tanztheaterstück „Mein Schloss“ von Jean Laurent Sasportes erkundet die seelischen Dimensionen von Autismus

Ein Mann stürzt an die Rampe, ungebremst, zwei Tänzerinnen halten ihn zurück. Er irrt verloren umher, sie fangen ihn ein. Er tastet vorwärts, sie halten ihn. Dazu lässt der Cellist sphärisch sanfte Streicherklänge erklingen, kratzt und knirscht eine Geigensaite, pocht es auf ein Blasinstrument, erzeugt das Akkordeon einen dunklen, bedrohlichen Dauerton. Immer wieder finden die vier Musiker auf der Bühne zu leisen Melodiefetzen  zusammen – um wieder der Stille ihren Raum zu lassen (Musik: Tetsu Saitoh). Zart und sanft beginnt „Mein Schloss“ des Choreografen und ehemaligen Pina Bausch-Tänzers Jean Laurent Sasportes über das Phänomen des Autismus. 

Der vieldeutige Titel des Abends ist Programm: „Mein Schloss“ zeigt die sogenannte Entwicklungsstörung nicht wie eine Krankheit, sondern eher als Wahrnehmungsmuster, womöglich als Auszeichnung – mit der man sich ab- und eingeschlossen, aber auch empfindsam und herausgehoben fühlen kann. Wochenlang hat Sasportes mit seinem vierköpfigen Tänzer-Ensemble - beauftragt und finanziert vom Verein Autismus Wuppertal/Düsseldorf-Bergisches Land e.V. - in Therapie-Zentren recherchiert, dazu haben sie das berühmte Buch des Autisten Naoki Higashida „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ gelesen. Jeder von uns könnte es sein – und jeder der Tänzer kann auf der Bühne zum Autisten werden. Verstrickt in kleinste Bewegungsdetails, in das Heben ihres Daumens oder das Schütteln des Kopfes, sehen die Tänzer immer wieder aus wie kleine, autonome Inseln der Weltverweigerung. Und dann zeigen sie doch, was sie tänzerisch drauf haben, kreiseln und wirbeln in Parallel-Formationen, während die Instrumente zum satten Orchesterklang anschwellen. Der schlagartig wieder abebbt, um dem auf der Stelle zitternden Tänzer Kenji Tagaki Raum zu geben. Stockend geht er an den Zuschauern vorbei, fragt sie stakkato-artig nach ihrem Befinden, eine tastende Welt-Erkundung – die ihm im nächsten Moment schon wieder zu viel wird. Zitternd bleibt er in der Mitte stehen, wie ein Insektenschwarm rasen die anderen auf ihn zu und halten ihm Zeitungsmüll vor das Gesicht:  So könnte es sich anfühlen: das plötzliche Gefühl von Überforderung durch eine Welt, deren Eindrücke sich verselbständigen und ungefiltert auf die Synapsen knallen. 

Wellenförmig funktioniert dieser Abend, dramaturgisch klug schwankt er ständig zwischen verschiedenen Geschwindigkeiten, Lautstärken, Seins-Zuständen. Mal tanzt die Tänzerin Chikako Kaido euphorische Fantasie-Reisen, wird mit ausgestreckten Augen zum verzückten Vogel – um im nächsten Moment von Finsternis und Chaos umgeben zu sein, Schattenvögel schwingen als bedrohliche Videoprojektionen über die schlagartig verdunkelte Bühne. Doch stets gibt es neue Hoffnung, wirbt sich ein sanfter Akkordeon-Klang ein, geht das Licht wieder an. „Ich bin hier“, ruft die Tänzerin Eri Fukahori und markiert viele kleine Stellen auf der Bühne:  das autistische Ich ist zersplittert in tausend Zustände. Dass seine offene Wahrnehmungsschranke indes Lust und Qual bedeuten kann, wird an diesem Abend immer wieder deutlich. Wenn es definitiv zuviel ist, bricht die Performerin  Chikako Kaido in einen spitzen Überforderungsschrei aus - und beruhigt sich erst, wenn ihr Guillebaud sanft ein Wasserglas in die Hand gibt. Eins der Details, die das Ensemble, so ist beim anschließenden Publikumsgespräch hören, übrigens in der Recherchezeit selbst beobachtet hat: das Entlegendste kann zueinander finden, der banalste Alltagsgegenstand zuweilen Halt geben. 

Nicht alle Bilder des Abends sind zu entschlüsseln, viele bleiben rätselhaft – zum Glück. Denn die letzten Geheimnisse der Wahrnehmungs-Krankheit Autismus sind nicht aufzuklären. Der Verdienst des Choreografen Saportes und seines hervorragenden Tänzer-Ensembles aus Japan und Berlin sowie der Musiker, die sich immer wieder diskret ins Geschehen mischen, ist: nie stellen sie die autistischen Gesten und Verhaltensweisen verächtlich als Behinderung aus, sondern scheinen sie eher zu befragen – mit dem Ausdruck einer kindlichen Neugier. Wenn der Blechbläser Wolfgang Sucher und Tänzer Takagi stockend das Alphabet sprechen, buchstabieren sie sich förmlich eine neue Welt zusammen: nicht schlechter, sondern andersartig. Wenn sich die Tänzer aus Decken Zelte bauen, sind das nicht nur Fluchtorte – sondern auch Rückzugs-Oasen. Wenn Tänzerin Eke Fukohari  scheinbar willkürlich mit dem Fuß aufstampft, sieht das nicht nur gestört, sondern auch trotzig verweigernd aus. Denn soll man sich wirklich all dem permanenten Plappern und Kreischen unserer bilderbestürmten und dampfbeplauderten Welt aussetzen? Kann es da nicht viel besser sein, sich auf einzelne Körperteil-Details zu konzentrieren? Sasportes testet in „Mein Schloss“ auch aus, ob die Welt-Abschottung eine Möglichkeit sein könnte, der Raserei der Reizüberflutung zu entgehen – Autismus als Chance.  „Smalltalksmalltalksmalltalksmalltalk“ ruft Chrystel Guillbaud so lange, bis der Wortsinn verschwindet – und stellt so dar, wie absurd das Brausen der Außenwelt klingen kann. Zum Schluss rasen alle, Musiker und Tänzer, mit ihren elektronischen Endgeräten und Sonnenbrillen, maximal abgeschottet von Welt-Eindrücken, über die Bühne. Sie  plappern, wischen, posten, talken, lassen summen, vibrieren, klingeltönen – und führen auf einmal jene autistische Außenweltabschottung vor, die gesellschaftlich längst an der Tagesordnung ist.

Und auch, wenn das Schlussbild vielleicht ein wenig überdeutlich und überdehnt ist:  Sasportes und seine hervorragenden Performer haben betörend ambivalente Bilder für einen Wahrnehmungszustand  gefunden, den Behinderung zu nennen danach wohl niemandem mehr einfallen wird. Sind wir Bildschirmabhängige und Nachrichten-Junkies nicht viel gestörter?  Was normal ist und was nicht, das erfährt an dieser klugen, ästhetisch betörenden Inszenierung eine tiefgründige Befragung.  

Dorothea Marcus